Mittwoch, 16. September 2009

Assia Djebar in Berlin

(Foto: Assia Djebar mit ihrer Dolmetscherin im Hau der Kulturen der Welt)

Die Veranstalter wurden allmählich unruhig. Wenige Minuten vor dem Beginn der Lesung im Haus der Kulturen der Welt fehlte die Hauptperson, Assia Djebar. Da zeigte jemand auf eine kleine Dame, deren Locken wild unter einem roten Hut hervorquollen, in der ersten Reihe im Publikum. Ganz bescheiden hatte die berühmte Schriftstellerin Platz genommen und wartete geduldig auf den Beginn des Gesprächs mit den beiden Schriftstellern Terézia Mora und Navid Kermani.
In deren literarischem Salon plaudern Kollegen über Leben und Werk und können auch Musik mitbringen.
Assia Djebar wollte ihre Lesung mit der Musik von der algerischen Sängerin und und Schriftstellerin Taos Amrouche einleiten, die sie als eine ihrer bedeutendsten Vorgängerinnen in der algerischen Kulturszene betrachtet und auch um ihren Erfolg kämpfen musste. So hatte ihr Bruder, der gleichzeitig ihr Verleger war, ihren Roman nach dem Druck in einer Besenkammer versteckt, um ihn nicht in die Büchereien ausliefern zu müssen. "Die Väter, die Brüder oder die Cousins, die können mit dem Erfolg der Frauen oft nicht umgehen", empört sich die Schriftstellerin, die darin eine Parallele zu ihren eigenen schmerzlichen Erfahrungen mit den Männern in ihrem Heimatland sieht, die sie in vielen ihrer Bücher beschreibt.
Der Titel ihres neuesten Romans "Nirgendwo im Haus meines Vaters" bezieht sich auf einen Ausspruch von Fatma, der Tochter des Propheten Mohammed, die mit diesen Worten ihre Enterbung beklagte. Auch Assia Djebar wurde von ihrem Bruder enterbt und "kann ihn noch heute nicht ansehen, da sie ihm sonst ins Gesicht spucken müsste." Es schmerzt sie, die ihren Vater liebte, kein Haus mehr in ihrem Land zu haben. Andererseits ist sie dankbar für die "Klarheit", die sie dadurch gewann.
In ihrem Land, so erzählt sie, wäre sie schon als 17-Jährige beinah gestorben. In einem Akt der Verzweiflung hatte sie sich nach einer Anmaßung ihres Verlobten auf die Straßenbahnschienen gelegt. Und hätte nicht der Fahrer, ein Europäer, mit ganzer Kraft die Bremse gezogen, hätte sie nicht überlebt. Diese Szene erzählt sie in ihrem aktuellem Roman, in dem sie sich in ihre frühe Kindheit begibt. Es ist der erste von drei geplanten autobiographischen Bänden, eine Art "Selbsttherapie". Vieles, was sie jahrelang verdrängt hatte, spülte der Schreibprozess schmerzhaft an die Oberfläche.
Ganz besonders hat sich die Szene mit dem Fahrrad als ein Trauma in ihr Unterbewusstsein eingebrannt. Mit vier oder fünf Jahren brachte ihr ein kleiner französischer Nachbarsjunge das Fahrradfahren bei. Ihr Vater ruft sie jedoch in die Wohnung und maßregelt sie, er wolle nicht, dass sie ihre Beine vorzeige. Das Mädchen begreift zwar den Vorwurf nicht, entwickelt jedoch auch wegen des Schweigens der Mutter Schuldgefühle. Das Fahradverbot wird zu einem Trauma, das sie noch Jahrzehnte nach dem Tod des Vaters daran hindert, das Zweiradfahren zu lernen.
Ihre Kindheit in einem kleinen algerischen Dorf war dennoch überwiegend glücklich, wenn auch voller Widersprüche zwischen dem mondänen städtischen Lebensstil der Mutter, die aus einer aristokratischen Familie stammte und der Religiosität des Vaters, eines Lehrers. Der förderte jedoch seine Tochter, schickte sie auf die französische Schule und später als erste algerische Frau auf eine französische Eliteuniversität. Das nicht Fahrrad fahrende Mädchen von einst ist heute die berühmteste Schriftstellerin Algeriens, die auf arabisch betet und auf französisch schreibt. 2005 wurde sie als drittes weibliches Mitglied in die Akademie francaise aufgenommen.
Wenn sie ihre Texte liest, dann fliegen die Gedanken ihrer Zuhörerer mit ihr auf dem Fahrrad durch die algerische Wüste, schweifen an der Dorfstraße entlang zum Hamam, verweilen in dem Hof ihres Wohnhauses und erstarren im Angesicht der herrannahenden Eisenbahn. Die Kraft der Worte, der Rhytmus der Sprache, das sind ihre Waffen im Kampf für die Rechte der Frauen. Die Waffen einer ungewöhnlichen Frau.

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